James Carr

*6.4.1942 Los Angeles †5.4.1972 Los Angeles Gebiet: USA

Manche Menschen sehen die Welt mit einem unerbittlichen, brutalen Durchblick. Ihre Welt. Klar. Im Fall von James Carr führte dies dazu, dass er mit neun Jahren seine Schule abfackelte, weil er sich als Schwarzer von einem Lehrer der Anstalt ungerecht behandelt fühlte. Gut, eigentlich wollte er nur das Zimmer des Lehrers in Flammen aufgehen lassen und nicht gleich die ganze Einrichtung, aber am Ende erfüllte ihn die Brandruine mit Stolz.

Right from the start I guess I was a bad motherfucker

Geboren wurde Carr in Watts, Los Angeles, jenem Watts, das die berüchtigten „Unruhen“ von 1965 hervorbrachte, einem Ghetto der Schwarzen, wie sie von der liberal-faschistischen Gesellschaft der „United Nations of Amerika“ (jaja, so heißen die ausgeschrieben!) auf dem ganzen Kontinent eingerichtet wurden, weil sie mit der vorgeblichen Abschaffung der Sklaverei und Unterdrückung seit dem „Civil War“ (auch: Sezessionskrieg 12. April 1861 – 9. April 1865, offiziell 600.000 Tote) bis heute noch nicht wirklich weitergekommen ist.

Seine Mutter kannte er recht gut, wenngleich sie ihm aufgrund ihres Alkoholismus nicht oft a real mother sein konnte. Präsenten Vater gab es keinen. Geschwister schon, allerdings hatte er keine Gelegenheit, nähere, tiefere Beziehungen zu diesen aufzubauen, weil das schlicht unmöglich ist, solange jeder Tag, jede Stunde, jede Minute des Lebens dem Überleben geschuldet bleiben muss. Zu viel Gefühl tut nicht gut. Hilft einem nicht weiter.

I’ve been struggling all my life to get beyond the choice of living on my knees or dying on my feet. James Carr schrieb kurz vor seinem gewaltsamen Tod in Los Angeles 1972 eine Autobiografie, die den kurzen aber offenherzigen Titel BAD trägt. Dieses Buch, das erst posthum publiziert werden konnte, wurde bald nach seinem Erscheinen auf die schwarze Liste des Landes der „Meinungsfreiheit“ gesetzt. Es erreichte dennoch seine Leser_innenschaft, indem es unter der Hand verteilt wurde. Heuer gelang nach mehreren „schwarzen Ausgaben“ eine offizielle Neuauflage mit weltweitem Vertrieb. Das macht 44 Jahre. Die Zeit tickt nicht überall gleich. Beim Thema Rassendiskriminierung tickt sie sogar so langsam, dass es heute manchmal scheint, sie habe kehrtgemacht und laufe wieder zurück in die „gute, alte Zeit“. Nicht nur in den „United Nazis of Amerika“.

Dieser 200 Seiten umfassende Band wäre bloß eine weitere Selbstdarstellung eines vom Leben Überwältigten, hätte James Carr es nicht mit absolut schonungsloser Ehrlichkeit verfasst. BAD ist in diesem Sinn eine Untertreibung. In chronologischer Geschichtstreue schildert er darin Kapitel für Kapitel seinen Werdegang vom 9-jährigen Feuerrächer zum Agitator als Gewalt- und Schwerverbrecher, den er bis zuletzt weit länger innerhalb von Gefängnismauern absolvierte, als außerhalb. Sein Leben war so proportional verkehrt zur american society, dass die Wahrnehmung von Drinnen und Draußen umgedreht schien.

I’m learning how to get out of the pen without leaving. Carr konnte nach einiger Zeit sein Leben in the mainline weit besser strukturieren und erhalten als in der Außenwelt. Weil drinnen vieles nach seinen Regeln lief, den rules seiner gang, dem wolf pack. Bis er so weit war, lernte er und wuchs zu einschüchternder Konstitution heran; er schlägerte, vergewaltigte und tötete sich in einer gnadenlosen Rangordnung nach oben an den Zenit von Soledad State Prison, „Q“ (San Quentin) und Folsom. (Die Jugendstrafanstalten davor machen eine lange Liste aus. Lest das Buch!).

Seine Vorteile: Optimale körperliche Entwicklung und ein kühler Intellekt. Beides erlaubte ihm bald jedes Mittel anzuwenden, um alive bleiben zu können. Mit Losern gab er sich nicht lange ab, die vergewaltigte er vielleicht (made them homos), tötete sie manchmal, presste ihnen deren Essensrationen und Zigaretten ab, oder überließ sie, den rules folgend, jemandem auf Augenhöhe, dem er einen Gefallen schuldete. Konnte auch umgekehrt laufen. Bad indeed. Er nannte all das: survive.

Ein weiterer wichtiger Punkt kam nach der Bekanntschaft mit George Jackson hinzu: Agitate. Das hieß permanente Bereitschaft zu jedweder Revolte bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Oberste Regel: Selbst überleben. Zweitwichtigste Regel: Möglichst viele Gegner schwächen, ausschalten, demoralisieren, töten. Alle außer den Gangmitgliedern waren Gegner: Die Wachmannschaften, alle Weißen (nazis), alle Mexikaner (spics) und Schwarze, die einem gefährlich werden konnten. Dritte Regel: Nicht auffallen. Das gelang Carr nicht immer. So landete er in allen Gefängnissen immer wieder im Rahmen der AC (Adjustment Center, verschärfter Strafvollzug) in the hole. Haftverschärfungen, die nur mit dem Begriff Folter (torture) zu umreißen sind: Nahrungsentzug, Isolation, Hygieneentzug, Lichtentzug oder Dauerlicht und natürlich, je nach Laune und Besetzung der Wachmannschaft, Schläge, Schläge, Schläge. Nicht umsonst wählte Carr in seinem Buch eine solche Strafverschärfung als Rahmen der Schilderungen seines Lebens: Er im Loch reminisziert sein Leben als „the baddest motherfucker“ (George Jackson).

Dieser George Jackson war einer der wenigen, die Carr als real friend bezeichnete: weil er ihm imponierte, er sich zu behaupten wusste und diese authentische attitude der black power verkörperte, die Jackson in eindrucksvoller Manier in den als Soledad Brother herausgebrachten Briefen aus dem Gefängnis offenlegte. Jackson war hochpolitisch und mit den in den 60ern gegründeten Black Panthers anfangs eng verbunden. Doch deren Personenkult rund um die beiden Gründer H.P. Newton und B. Seale missfiel ihm zusehends. Jackson starb im Kugelhagel auf dem Gefängnishof von „Q“. Carr selbst kehrte den Panthers den Rücken und wandte sich noch kurz vor seinem Tod 1972 in einem Brief an seine weiße Frau Betsy Carr entschieden gegen solch eine Mystifizierung, und dies aus wohlfeilen politischen Überlegungen heraus: We decided long ago to negate our individuality, for only thus is it possible to serve those whom you claim to represent. A movement must never center around one or a group of people, for if it does, at that point it marks itself for its very doom.

James Carr starb am 5. April 1972 im Kugelhagel direkt vor seinem Wohnhaus in Los Angeles. Dieser Mord wurde nie aufgeklärt und ist eine nahrhafte Spekulationsküche, die den Täterkreis von der Agency und dem FBI über gang rivalry bis hin zu den Black Panthers zieht. Nobody knows but Hoover, vermute ich.


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