Granny Nanny

* um 1686 Aschantireich (Ghana); † um 1755 Jamaika; Gebiet: Jamaika

Die Warrior-Queen Nanny war eine Guerillaanführerin der Windward Maroons. Vor allem diese betrachten sie bis heute als ihre Ahnherrin. Granny Nanny übte gleichzeitig Funktionen als politisches und spirituelles Oberhaupt, Richterin sowie kräuterkundige Heilerin und Magierin aus. Darüber hinaus stellt sie im postkolonialen Identifikationsprozess die Integrationsfigur der Nachkommen der einst aus Afrika als „Ware“ nach Jamaika importierten Menschen dar.

Magic Maroon Queen

Bei Maroons (abgeleitet von Cimarrones; spanische Bezeichnung für entlaufene Haustiere, wörtlich „wilde Tiere“) handelte es sich um entlaufene Versklavte, die fernab der Kolonialsiedlungen und Plantagen in möglichst unzugänglichen gebirgigen Gegenden ihre Existenzen aufbauten und erbitterten Widerstand leisteten.

Während des Eroberungskrieges von 1655, im Zuge dessen Jamaika von Großbritannien in Besitz genommen wurde, ergriffen größere Gruppen von afrikanischen Sklaven die Gelegenheit zu Flucht, Widerstand, Rebellion und Communitybildung. Von den Spaniern zur Landesverteidigung bewaffnet, machten sie sich lieber selbstständig als mit ihren einstigen Unterdrückern gemeinsame Sache gegen die britischen Invasoren zu machen. Jamaika wurde nun als wichtiger Handelsstützpunkt und Zuckerproduktionsstätte in den transatlantischen Dreieckshandel (Rohstoffe / Kolonialprodukte – Waffen, Alkohol, Stoffe – Versklavte) eingebunden. Obwohl die menschliche „Fracht“ aus verschiedenen Gesellschaften stammte, wurden Ideen und Praktiken afrikanischer Lebenswelten in die karibische Hölle als einigendes Band übertragen und den neuen Bedingungen angepasst. Verwandtschaftsverhältnisse wurden kreiert, Gemeinsamkeiten geschaffen, verschiedene Formen des Zusammenlebens, Moralvorstellungen und Glaubensinhalte bereits auf der Überfahrt neu zusammengewürfelt und ausgehandelt, sodass die Entrechteten nicht vollständig ihrer kulturellen Wurzeln beraubt waren.

Da die Deutungshoheit in der Berichterstattung stets bei den Kolonialherren lag, wurden die immer wiederkehrenden und wohl organisierten Maroon-Aufstände von jeher als Rebellion von „gewalttätigen Wilden“ stigmatisiert. Die nur schwer zu rekonstruierenden Realitäten waren mit Sicherheit komplexer, situationsbezogen und strategiegeleitet. Divergierende Interessen standen notgedrungen neben den aus Afrika importierten Idealen.

Um den Lebensunterhalt zu bestreiten, waren die Maroon-Frauen für Ackerbau und Viehzucht zuständig, während die Männer zur Jagd gingen und ihre einstigen Unterdrücker, die Plantagenbesitzer, ausraubten, um Waffen und Nahrung zu erbeuten. Die Befreiung von Sklaven war für sie Ehrensache, mit Vorliebe von Sklavinnen, auch um ihren Fortbestand zu sichern. Nebenbei wurde aber auch Tauschhandel mit europäischen Siedlern betrieben.

Wohl entsprechen diese Geschlechterrollen nicht unserem heutigen Verständnis von Gleichberechtigung, doch waren diese im -Vergleich zu den ausbeuterischen Verhältnissen auf den Plantagen – oftmals auch in sexuell-sadistischen Ausmaßen – geradezu emanzipatorisch. Zudem erscheint die Arbeitsaufteilung keineswegs starr. So berichten Legenden von starken Maroon-Amazonen, die bei Überfällen auf Plantagen säbelschwingend britische Köpfe erbeuteten, Versklavte befreiten und in ihren Gemeinschaften Respekt und Achtung genossen.

Laut manchen Berichten soll Nanny gemeinsam mit ihrem Bruder Kwao Anfang der 1720er-Jahre die sogenannten Windward-Maroons in der nordöstlichen Region Portland Parish / Blue Mountains vor den Briten in Sicherheit gebracht haben. Allein zum Todeszeitpunkt von Nanny gibt es in den spärlichen Originalquellen aus dem 18. Jahrhundert widersprüchliche Hinweise.

Im Jahr 1733 soll Nanny zum ersten Mal gestorben sein, angeblich vom zu den Briten übergelaufenen Sklaven William Cuffee ermordet, der laut Beschluss des gesetzgebenden House of Assembly of Jamaica dafür fürstlich entlohnt worden sein soll, eventuell sogar freigelassen. Cuffee bezeichnete Nanny als „obeah woman“, eine abwertende Bezeichnung für eine Naturheilerin mit afrikanischen Wurzeln.

Dass Nanny nur zwei Jahre später vor den Augen eines weiteren Überläufers der Maroons drei Todesurteile gegen „Weiße“ gefällt haben soll, lässt die vermeintliche vorige Ermordung durch den „slave in red coat“ nicht gerade glaubwürdig erscheinen und gibt Raum für zahlreiche Spekulationen. Im Jahr 1739 rangen die Windward-Maroons der britischen Kolonialverwaltung nach jahrelangen Kämpfen einen für die Briten peinlichen Friedensvertrag ab, welchen Kwao unterschrieb, der aber von Nanny als Ausdruck der Unterwerfung verdammt worden sein soll. Unter anderem beinhaltete der Kontrakt einen Paragrafen, laut dem sich die Maroons an der Landesverteidigung zu beteiligen und entlaufene Sklaven zurückzuführen hatten.

Fünfzig Jahre später wurde ein Bericht eines britischen Armeeoffiziers namens Philip Thicknesse veröffentlicht, dem Nanny hauptsächlich ihren Ruf als „blutrünstige Hexe“ und „schrecklicher Teufel“ zu verdanken hat, obwohl sie nicht einmal namentlich erwähnt wird. Thicknesse hatte 1739 eine Expedition begleitet, um den Windward Maroons ein neuerliches Vertragsangebot zu unterbreiten, nachdem bereits dreieinhalb Monate zuvor vom Gutsherren Laird of Leharets als Botschafter ein Vertrag vorgelegt worden war. Gleichzeitig erkundigte man sich nach Lairds Verbleib.

Kwao wäre schon damals zum Einlenken bereit gewesen, doch hätte die „obeah woman“ nicht nur den Vertrag mit Verachtung abgelehnt, sondern bei der Gelegenheit auch gleich noch befohlen, den Laird kurzerhand zu enthaupten. In Thicknesses kolonialen Fantasien wurde der Verurteilte von der „alten Hexe“ mit zehn Klingen aus deren Messergürtel vorher noch gefoltert. In der Verzierung eines Hornes der lokalen Hornbläser glaubte er Lairds Unterkiefer mit einer besonders auffälligen Zahnstellung zu erblicken, im Knochenschmuck älterer Frauen an Knöcheln und Handgelenken meinte er die durchbohrten Zähne britischer Soldaten zu erkennen, welche zuvor bei einer Schlacht gefallen waren. Fakt ist, dass ihm Jahr 1741 von der britischen Verwaltung weitere 500 Morgen Land an eine „certain Negro woman called Nanny“ via Landpatent übertragen wurden. Hier wurde nun New Nanny Town, das heutige Moore Town, als Hauptort der Windward-Maroons gegründet, nachdem das ursprüngliche Nanny Town sieben Jahre zuvor von den Briten zerstört worden war. Die Fläche wurde 1781 via Verordnung vom Gouverneur General Archibald Campbell erweitert, nachdem – laut heutigen Aussagen von Maroons – Nanny persönlich dieses zusätzliche Land eingefordert haben soll.

Offensichtlich handelte es sich bei Nanny also keineswegs lediglich um ein spirituell-religiöses Oberhaupt, sondern – gerade bei der Wichtigkeit, die Landrechte neben dem Freiheitsideal bei den Maroons haben – auch um eine politisch-juridisch verantwortliche Persönlichkeit mit militärischen Vollmachten.

Daneben ranken sich viele Mythen und Legenden um Nanny als Weissagerin und Magierin mit übernatürlichen Kräften: Beim Waffengang bestimmte sie, wann die Gunst der Stunde geschlagen hatte. Am Fuß eines bei Nanny Town gelegenen Hügels brachte sie angeblich auf mysteriöse Weise einen riesigen Kessel ganz ohne Feuer zum Brodeln, in welchen die neugierigen britischen Rotröcke beim Versuch, einen Blick in dessen Inneres zu erhaschen – möglicherweise von halluzinogenen Kräutern betört – kopfüber hineinfielen. Zudem soll sie in der Lage gewesen sein, Gewehr- und gar Kanonenkugeln mit ihren Pobacken aufzufangen und zu den britischen Angreifern zurückzufeuern. Es lassen sich zahlreiche Bezüge zu den westafrikanischen Akan-Kulturen herstellen, in welchen Frauen wichtige Positionen eingenommen haben und personifizierte Macht vielmehr mit der Verantwortung verknüpft war, ein konsensuales Zusammenleben zu ermöglichen. „Nanny“ lässt sich von der Akan-Respektsbekundung Nana, einem spirituellen Oberhaupt, ableiten. Dabei handelte es sich um eine Frau, die nicht nur gegen Krankheiten, sondern nach dortigen Vorstellungen auch gegen feindliche Kugeln immunisieren konnte.

Nannys Rolle als erste Ahnin und ursprüngliche Landbesitzerin des Vertragslandes findet gleichfalls ihr Pendant in den Akan-Gesellschaften. In diesen kommt traditionell der Ohemma („Queen-mother“) als übergeordneter Repräsentantin auch eine tragende Rolle als politische Kontrollinstanz zu.

Die Friedensverträge von 1738 / 39 waren die ersten mit so weitreichenden Zugeständnissen an sogenannte „Wilde“ seitens des British Empire. Noch heute bilden sie die Grundlage für einen dualistischen Rechtspluralismus als eine Art sich ständig verändernder „Staat im Staat“, wobei bis heute versucht wird, die festgeschriebenen Rechte der Maroons, insbesondere deren Autonomie, immer weiter auszuhöhlen.

Dafür ist jedoch nicht allein der jamaikanische Staat verantwortlich. Profitgierige Großfirmen beuten die dortigen Holzbestände aus, schüren Rivalitäten und Streitereien unter den Maroons und nicht zuletzt sind es oftmals auch diese selbst, welche, wenn sie sich benachteiligt fühlen, ein nach britischem Vorbild geschaffenes jamaikanisches Gericht anrufen, -anstatt ihre eigene Justiz walten zu lassen.

Da würde sich Nanny wohl im Grab umdrehen. Ob es ihr gefallen würde, dass sie seit 1975 als erste Nationalheldin Jamaikas gefeiert wird und ihr vermutetes Konterfei den 500-$-Schein als größte Banknote des Landes schmückt? Dann wohl schon eher, dass sie als Ikone des Jahrhunderte währenden Freiheitskampfes der Maroons im Mittelpunkt zahlreicher literarischer und künstlerischer Darstellungen sowie kultureller Festivitäten und sozialer Bewegungen steht.


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