Mary

* 1892; † 13.9.1916 Erwin, Tennessee (USA); Gebiet: USA

Bis ins 13. Jahrhundert wurden Tiere für ihre „Vergehen“ kurzerhand abgeschlachtet. Im Zuge der Inquisition und der damit einhergehenden Verfolgung von Un- und Falschgläubigen, Leprakranken und Hexen wurden ihnen aber bis ins 17. Jahrhundert regelrechte Prozesse gemacht. Die Gesamtzahl gerichtlich verurteilter und von Amts wegen ermordeter Tiere reicht in die Tausende.

Murderous Mary

Ist ein Todesurteil rechtens, braucht sich schließlich auch niemand Vorwürfe zu machen, das Leben eines anderen ausgelöscht zu haben. So mögen uns Gott und / oder Gesetz stets treue Begleiter in Zeiten der Not sein. Möge die Schuld stets von uns genommen werden. Möge es uns Menschen nie an (religiösen) Ausreden und (gesetzestreuen) schützenden Händen mangeln, damit wir in Ruhe und Frieden weiterhin all die Untaten begehen können, die wir als Gattung Mensch tagtäglich uns und anderen zufügen.

Die Elefantin Mary hat keinen Prozess erlebt. Ihr Tod ist eine Mischung aus einer aus finanziellen Motiven gezielt angezettelten Zirkusshow und einem vom lüsternen Mob durchgeführten Lynchmord. Als ihre Besitzer, die „Sparks World Famous Shows“, unerwartet in eine für sie prekäre Lage geraten, wird dem zu Lebzeiten als „Mighty Mary“ bekannten Tier der Strick um den Hals gelegt.

Ende des 19. Jahrhunderts tingeln zig „Shows“ durch die USA. Zuerst noch mit Kutsche und Pferd, später mit Zügen, ziehen sie von Ort zu Ort und versuchen sich gegenseitig zu übertrumpfen. The bigger the better, kennt man ja. Mit Raubtieren und Großwild funktioniert das auch sehr gut. Charlie Sparks’ Unternehmen entwickelt sich von einer kleinen Zirkusshow zu einem der bekanntesten Acts des Kontinents, 15 Eisenbahnwaggons groß ist seine Entourage. Und als unzweifelhafter Höhepunkt fungiert neben all den Clowns, Artisten und Löwen die Mighty Mary, das „größte Landtier, das die Welt je gesehen hat“, der asiatische Elefant, der am Kopf stehen, Baseballbälle fangen und Musik machen kann. Die Massen strömen herbei, die Kassa stimmt.

Das Drama nimmt seinen Lauf, als am 11. September 1916 in St. Paul (Tennessee) Walter „Red“ Eldridge die Betreuung von Mary übernimmt. Komplett unqualifiziert tritt der sonst mittellose, und als „23- bis 38-jährig“ beschriebene Mann die Stelle als Pfleger an. Und er ist entweder völlig überfordert oder, nun auch endlich einmal Teil von etwas „Besonderem“, zu übereifrig bei der Sache. Bereits am zweiten Tag seines Engagements, im Städtchen Kingsport, schlägt er auf dem Weg zur Wasserstelle über die Stränge. Mary, wie sich im Nachhinein herausstellt, bereits von zwei Abszessen im Mund genervt, will sich eine am Boden liegende Melone schnappen. Von Eldridge mit Schlägen mittels einer Spitzhacke daran gehindert („Elefantenhaken“ sind heute noch tierquälerischer Standard der Elefantendressur), packt sie den Mann kurzerhand, schleudert ihn meterhoch in die Luft und stampft ihm auf den Kopf, bis dieser wie eine Wassermelone platzt.

Die Zuschauermenge ist entsetzt, läuft panisch auseinander. Die Stadt spricht bald von 17 weiteren Opfern. Diese gibt es allerdings nicht. Ein mit einem Revolver bewaffneter Schmied leert fünf Patronenladungen auf den Elefanten, die mehr oder minder ohne Auswirkungen bleiben. Der Mob kehrt zurück, umzingelt das Tier in sicherer Entfernung und fordert den Tod des Elefanten. Der Besitzer Charlie Sparks kann Mary beruhigen, der Sheriff und seine Helfer bringen sie zunächst noch in Sicherheit. Angeblich ist aber schon eine weitere aufgebrachte Meute auf dem Weg, mitsamt einer Kanone aus dem Bürgerkrieg. Tennessee ist nicht zimperlich, zwischen 1882 und 1930 werden 214 Menschen gelyncht, vornehmlich Schwarze, für so unglaubliche Verbrechen wie „der Prügelei mit einem Weißen“ oder weil sie eben nun mal „nachgewiesenermaßen“ einen grundsätzlich schlechten Charakter“ haben …

Aber was ist nun mit Mary zu tun? Sie ist Charlie Sparks Trumpf, ohne sie wird sein Zirkus zu einer lauen Sache. Der Mob fordert ihren Tod, weitere Städte in Tennessee wollen sie keinesfalls mehr zu sich lassen, die nächste Station Johnson City hat die für den folgenden Tag angesetzte Veranstaltung bereits offiziell untersagt. Ein letztes Mal holt Sparks das Maximum aus seinem Tier heraus. Für den 13. September wird in Erwin eine Show konzipiert, die zu einem Ereignis der Superlative werden soll. Kommt und seht! Wir machen Schluss mit der „Murderous Mary“! Hängen soll sie! Das wird ein Fest! Zuerst sind noch andere Arten der Ermordung angedacht. Man überlegt, sie zwischen zwei Lokomotiven einzuzwängen und tot zu quetschen – man erinnert sich, dass 1885 der Elefant „Jumbo“ tödlich mit einer Lokomotive kollidiert ist. Oder besser noch, man reißt sie durch entgegengesetzt fahrende Lokomotiven einfach auseinander! Und ist nicht bereits 1903 mit Hilfe Edisons und des Prinzips des elektrischen Stuhls die Elefantin „Topsy“ nach einer Attacke auf ihre sie peinigenden Wärter in einem Vergnügungspark auf Coney Island (New York) ermordet worden? Aber nein, das geht nicht, in Tennessee ist nicht genügend Strom vorhanden, um so eine Art der Exekution („electrocution“) durchzuführen. Na dann, soll sie halt hängen. Sieht wenigstens jeder was.

Am 13. September 1916 strömen Abertausende nach Erwin. Groß und klein, alle wollen sie dabei sein. Zunächst wird ein Bein der nichtsahnenden Mary an einen Zugwaggon festgemacht. Schnell wird ihr eine Kette um den Kopf gelegt und diese durch einen Kran, der sonst tonnenweise Holz auf die Züge lädt, in die Höhe gehoben. Die Knochen des angeketteten Beins brechen lautstark, Mary muss wieder nach unten gelassen werden, um sie von der unteren Verbindung zu lösen. Als sie erneut gehoben wird, reißt die um den Kopf gelegte Kette und Mary stürzt zu Boden und bleibt einfach sitzen. Die Menge rennt angsterfüllt auseinander. Aber Mary kann sich nicht mehr bewegen, ihre Hüfte ist gebrochen. Eine stärkere Kette wird geholt, der geschundene Körper erneut in die Höhe gezogen. Nach einer halben Stunde wird sie von einem Veterinär offiziell für tot erklärt. Unweit der Schienen wartet bereits ein großes Erdloch als ihre letzte Ruhestätte.

Den Bewohner*innen Erwins bleibt bis zum heutigen Tage der zweifelhafte Ruf jener Gemeinde, die Mary umgebracht hat. Man spricht nicht mehr gerne darüber. Niemand weiß mehr, wo die Gebeine der Elefantin verscharrt liegen.


Journal cover



Outlaw Legend ist ein Projekt von Siebdruckeria
Kontakt AGB Impressum