Szymon Radowicki
* 10.9.1891 oder 10.11.1891 Stepanice (Ukraine); † 29.2.1956 Mexiko City (Mexiko); Gebiet: Europa, Mittel- und Südamerika
1891 wird Szymon in Stepanice / Wolhynien, einem kleinen ukrainischen Dorf mit jüdischer Bevölkerungsmehrheit, geboren. Er ist der Sohn einer Arbeiterfamilie aus Polen. Um den Kindern eine gute Ausbildung zu ermöglichen, zieht die Familie in die Industriestadt Jekaterinoslav.
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Szymon Radowicki ist bereits 1905 als Jugendlicher im zaristischen Russland tatkraftig am Aufbau der Revolution beteiligt. Um einer Deportation oder Ermordung vorzubeugen, emigriert er nach Argentinien
Polizeioberst Ramón Lorenzo Falcón lässt wiederholt Arbeiter*innenstreiks niedersäbeln und niedererschießen. Radowicki beschließt, ihn dafür büßen zu lassen und sprengt 1909 die Kutsche Falcóns samt seinem hochrangigen Inhalt
Denkmal für Ramón Lorenzo Falcón. Wie immer haben sie den Beton, aber wir die Farbe!
Im November 2003 wurde nach einer Anrainer*innenbefragung die "Plaza Ramón Falcón" nach Szymon Radowicki umbenannt
Das berühtigte Hochsicherheitsgefängnis in Ushuaia von innen
"Vom Schtetl zum Freiheitskämpfer" (Augustín Comotto, Bahoe Books)
Zwanzig Jahre lang setzen sich Genoss*innen für den "Gefangenen 155" ein
Pasqualino Rispoli, "der letzte Pirat von Feuerland", verhilft Radowicki mit seinem Kutter zur (kurzfristigen) Flucht aus Ushuaia
Straßenfassade in Ushuaia
Die "semana roja" (Rote Woche) in Argentinien
Pietro Gori war ein italienischer Jurist, Journalist und Dichter, der die Liedtexte zu einigen der berühmtesten anarchistischen Liedtexte beisteuerte
Radowicki mit Rodolfo González Pacheco, einem der Herausgeber der anarchistischen Zeitschirft "La Protesta"
Der aus Deuscthland nach Argentinein ausgewanderte Kurt Gustav Wilckens ist eigentlich prinzipiell gegen Gewalt und vom Anarchismus eines Tolstoi inspiriert. Die Niederträchtigkeit polizeilicher Methoden und die Unmenge an erschossenen Indigenas und Arbeiter*innen Patagonoens lassen ihm aber keine Ruhe. Er beschließt den direkt verantwortlichen Polizeioberst Varela zu erschie0en und führt diese Tat 1923 aus
Erschießung Wilckens in seiner Gefängniszelle. Eigentlich wurde er zu 17 Jahre Haft verurteilt
Oberst Varela, "Der Schlächter von Patagonien"
F.O.R.A. - argentinischer Gewerkschaftsdachverband mit anarchistischer bzw. anarchokommunistischer Ausrichtung; bestand ab 1901 bis zur Militärdiktatur in den 19030ern
Die italienischen Emmigranten Ferdinando "Nicola" Sacco (re.) und Bartolomeo Vanzetti (li.) werden 1927 trotz weltweiter Proteste Opfer der U.S.-amerikanischen Klassenjustiz. "Ich habe in meinem ganzen Leben keinen Tropfen Blut verspritzt oder einen Cent gestohlen" (Vanzetti)
Severino Di Giovanni ist Anarchist und sprengt diverse Gebäude bis er schlußendlich gefasst und 1931 hingerichtet wird. Seine Sprengsätze treffen z.B. die George Washington-Statue in Palermo, die Ford-Werke und das italienischen Konsulat in Buenos Aires
Severinos Frau America Scarfo mit Kind
Buenaventura Durruti (1896 - 1936), spanischer Anarchist und Revolutionär. Einer der federführendsten Köpfe im Kampf gegen Franco
Radowicki mit Antonia Casanova (links) im spanischen Bürgerkrieg
Mit dem Exilkatalanen, Komponisten und Anarchopazifisten Ricardo Mestre (rechts) in Mexico City
Antonio Soto, einer der frühesten aktiven Anarchosyndikalisten in Patagonien
Multis wie Benetton waren stets große Profiteure der mörderischen Regierungspraktiken in Patagonien
Santiago Andrés Maldonado (1989 - 2017) war ein argentinischer Menschenrechtsaktivist. Er setzte sich für die indigene Bevölkerungsgruppe der Mapuche in ihrem Kampf gegen den Textil-Konzern Benetton ein und kam unter mysteriösen Umständen ums Leben
Verlag Monte Verita
Osvaldo Bayer (1927 - 2018). argentinischer Schriftsteller, Historiker, Journalist, Publizist und Menschenrechtsaktivist
Never trust a commie, part 792
Am 14.November 2018, also 109 Jahre, nach dem Anschlag Radowitzkys auf Ramon Falcon, verübte eine 33 Jährige Anarchistin, Anahi Esperanza Salcedo, ein Attentat auf das Mausoleum Falcons, das auch eine prunkvolle Gedenkstätte ist. Der Sprengstoff, explodierte allerdings vorzeitig, und sie erlitt dabei schwerste Verletzungen. Sie war mit einem zweiten Gefährten unterwegs, Hugo Rodríguez. Am selben Tag explodierte noch etwas, im Haus eines Bundesrichters, Claudio Bonadio, der mit diesem Fall vertraut war. Jedenfalls wurde sie im Spital verhaftet, und sobald sie sprechen konnte, nach dem sie aus dem künstlichen Tiefschlaf geweckt wurde, von den sie vernehmenden Polizisten schwer misshandelt. Im Ezeiza-Gefängnis weigerte sie sich weiter auszusagen, und ihr wurde medizinische Behandlung, Antibiotika und Schmerzmitteln verweigert. Ihr Gefährte wurde in ein anderes Gefängnis verlegt, und mehrere Menschen aus besetzten Häusern, wurden ebenfalls in diesem Zusammenhang inhaftiert. Heute ist sie noch immer in Untersuchungshaft, aber bekam eine Gesichtsrekonstruktion und verschiedene Atmungstherapien. Solidaritätsgruppen fordern ihre, und aller Verhafteten, Freilassung. Näheres bei Anarchist Black Cross.
Wenn es oben kein Recht gibt, muss es von unten ausgehen!
1901, mit 10 Jahren, muss Szymon die Schule verlassen, da die Familie verarmt. Er beginnt eine Lehre als Schmied. In dieser Zeit schläft er unter dem Esstisch des Meisters. Manchmal belauscht er von hier aus die Gespräche der Tochter seines Meisters mit ihren Freund*innen, die sich mit revolutionären Themen auseinandersetzen. Schließlich befreundet er sich mit der Tochter, die ihn mit den Ideen des Anarchismus bekannt macht.
1904, Szymon arbeitet in einem Eisenwerk, wird für die Einführung des 10-Stunden-Tages gestreikt. Auf dem Jekaterinoslaver Hauptplatz versammeln sich die Arbeiterinnen spontan zu einem Protestzug. Die Kosaken umstellen die Menge und es kommt zu Zusammenstößen, bei denen viele Demonstrantinnen schwer verwundet werden. So auch der 14-jährige Szymon, der von einem Säbelhieb so schwer an der Brust verletzt wird, dass er sechs Monate im Bett verbringen muss. In dieser Zeit wird er endgültig zum Anarchisten. „Sie, die Anarchisten, kamen zu jedem von uns, redeten von der eigenen Freiheit und dem gemeinsamen Handeln für die allgemeine Emanzipation. Eine solche Lehre stimmte mit meinem Temperament überein und überzeugte mich voll. Mit Gefühl und Überzeugung wurde ich nun ein Enthusiast der Freiheit, und hatte eigentlich schon immer zur anarchistischen Bewegung gehört, ohne von ihrer Existenz vorher gewusst zu haben …“
Danach wird Szymon festgenommen, weil er Flugblätter verteilt hatte, und zu vier Monaten Haft verurteilt. Im Gefängnis lernt er den Anarchisten Zuberov Fedosey kennen, der vor seiner Verbannung nach Sibirien Selbstmord begeht. „Lieber sterben, als ein Sklave zu werden!“ 1905 wird er während der revolutionären Ereignisse als 15-Jähriger zum zweiten Sekretär des Fabrikrates gewählt. Als er einem jähzornigen, besoffenen Soldaten, der die Arbeiter*innen auf einem Platz in Jekaterinoslav provoziert und beleidigt, Säbel und Pistole abnimmt und diese in der Fabrik versteckt, wird er denunziert und zu drei Jahren Deportation verurteilt, bleibt aber aufgrund seines Alters ein halbes Jahr im Knast von Jekaterinoslav.
Der „Blutsonntag von Petersburg“, an welchem die Petersburger Arbeiterinnen in den ersten Jännertagen 1905 aus den Vororten herbeiströmen, um dem Zaren friedlich eine Petition zu übergeben, die die Eindämmung der menschenunwürdigen Auswirkungen des Kapitalismus verlangt sowie eine Agrarreform, eine Volksvertretung und die Aufhebung der Zensur, fordert bis zu 1.000 Tote, als das Militär mit Kanonen auf die Menschenmassen feuert. Nikolaus der Zweite macht in Folge aufgrund der revolutionären Dynamik von Streiks, Massenerhebungen und Meutereien einige Zugeständnisse wie die „Duma“, die aber an der sozialen Lage der Bevölkerung nichts ändern. Dies ist der eigentliche Beginn der späteren russischen Revolution. Szymon ergreift die Initiative in Jekaterinoslav, er zwingt den Feuerwehrmann die Sirene als Signal für den Streik in der Fabrik zu starten. Die Arbeiterinnen verlassen die Fabrik, der Streikzug wird immer größer. Endlich kann der Generalstreik ausgerufen werden! Als die Polizei Szymon als den Initiator des Streiks ausmacht, droht endgültig die Deportation nach Sibirien. Genossen raten ihm zur Flucht, und mit gefälschten Papieren gelangt er nach Riga und von dort mit dem Schiff nach Argentinien.
Im März 1908 arbeitet Szymon als Eisenbahnmechaniker in Campana, außerhalb von Buenos Aires. Er liest die anarchistische Tageszeitung „La Protesta“, die Zeitung der anarchosyndikalistischen Massenarbeitergewerkschaft FORA, und lebt in russisch anarchistischen Exilantenkreisen, zu denen auch Intellektuelle wie Petrov, Ragapelov, Karaschin, Scutz und Buwitz gehören. Später leben sie gemeinsam in einem Mietshaus in einem Vorort von Buenos Aires.
Der 1. Mai 1909 soll das Leben Szymons dramatisch bestimmen. Eine große Arbeiterdemonstration wälzt sich im Gedenken an die anarchistischen Märtyrer von Chicago 1886 und im Appell an die internationale Solidarität an diesem weltweiten Streiktag auch in Buenos Aires auf die „Plaza Lorea“. Unter dem Kommando des berüchtigten Polizeioberst Ramón Lorenzo Falcón eröffnet die Infanterie das Feuer und eine Kavalleriedivision säbelt die Menschen nieder. Zwölf Demonstrierende werden sofort getötet, 40 schwer verwundet, Szymon hält einen blutgetränkten Schal in die Luft und begreift “… heute wurden meine Brüder und Schwestern ermordet!“ Ramón Lorenzo Falcón lässt alle Arbeiterlokale schließen, verhaftet 16 führende Gewerkschafter und entfesselt eine beispiellose Menschenhatz, bestärkt durch die bürgerliche Presse, die gezielt eine „russisch jüdische Verschwörung“ konstruiert, um im Einvernehmen mit den Behörden von den sozialen Problemen abzulenken und die internationale Arbeitersolidarität zu kriminalisieren. Die „Semana Roja“, die rote Woche, folgt, in der die stärkste Gewerkschaft FORA gemeinsam mit der sozialistischen UGT erfolgreich zum Generalstreik aufruft. Am 4. Mai versammeln sich 80.000 Arbeiterinnen zu einem Trauerzug für das Begräbnis ihrer Gefährten, aber Falcón schickt seine Truppen auch gegen die trauernde Menge. Wieder gibt es Tote und Schwerverletzte. Nach einer Woche deeskalieren die Behörden und erfüllen einige Forderungen der Arbeiterinnen.
Der 19-jährige Szymon hat inzwischen in der Arbeit heimlich eine Bombe gebaut. Die Pistole hat er sich schon länger „vom Mund abgespart“. Als Falcón eines Tages von einer Beerdigung mit seinem Assistenten zurückkehrt, wartet Szymon schon an der Kreuzung der Avenida Quintana mit einem Päckchen in der Hand. Falcón stellt seine Kutsche an der Avenida Callao ab, als Szymon die Bombe in die Kutsche wirft. Die Explosion tötet Falcón und seinen Assistenten. Beim Fluchtversuch wird Szymon festgehalten, die Kugel, die er sich selbst in die Brust jagt, tötet ihn nicht. Er schreit noch „Es lebe die Anarchie, ich bin ein Nichts, aber für jeden von euch habe ich eine Bombe!“
Szymon entgeht der Exekution, da er zum Tatzeitpunkt erst 18 Jahre alt ist. Ein Verwandter bringt gerade noch die Geburtsurkunde. Der Staatsanwalt über Radowicki: „Er gehörte zu jener Kaste von Halbwilden, die in der russischen Steppe vegetieren und ihr kümmerliches Leben zwischen der Unbarmherzigkeit der Natur und den Unbillen ihrer niederen Herkunft fristen.“ Szymon Radowicki beim Schlussplädoyer: „Ich tötete, weil Oberst Falcón, der Chef der argentinischen Kosaken, bei der 1.-Mai-Demonstration das Massaker gegen die Arbeiter befahl. Ich bin ein Sohn der arbeitenden Bevölkerung, Bruder der im Kampf gegen die Bourgeoisie Getöteten, und wie viele andere litt auch ich an der Qual derjenigen, die an diesem Nachmittag starben.“ Später, bei einem Gespräch mit Augustin Souchy, fügte er noch hinzu: „Wenn das kollektive Denken versagt, muss das individuelle Gewissen reden. Wenn es oben kein Recht gibt, muss es von unten ausgehen.“ Szymon stand in seinem Denken dennoch dem Pazifismus näher als jeglicher Gewaltverherrlichung. Ähnlich dem späteren Hamburger Anarchisten Kurt Wilckens, der den Schlächter von Patagonien, Coronel Varela, 1923 in Buenos Aires erschoss, und der den Ideen des pazifistischen Anarchisten Leo Tolstoi sehr nahe stand, war für Szymon der anarchistische Grundsatz der „Anwesenheit des Zieles in den Mitteln“ eine Selbstverständlichkeit, entgegen dem sonst üblichen Grundsatz, dass „der Zweck die Mittel heiligt.“
Der Richter verurteilt Szymon zu einer unbestimmten, aber mindestens 30-jährigen Haftstrafe, und um den jährlichen Todestag Falcóns zu einer 20-tägigen Strafverschärfung durch Wasser und Brot und andere Schikanen. Im Strafvollzug erarbeitet sich Szymon durch sein solidarisches und aufrechtes Handeln schnell großen Respekt unter den Mitgefangenen und sogar bei einigen Wärtern. Als 1911 bei einem Ausbruch 13 Gefangene, darunter zwei gefürchtete Anarchisten, entkommen, wird Szymon kurz zuvor in die Gefängnisdruckerei gerufen, was seine Flucht verhindert. Die Gefängnisleitung beschließt, den aufmüpfigen Gefangenen gemeinsam mit anderen in das berüchtigte Gefängnis von Ushuaia zu verlegen, in Feuerland, ans Ende der Welt. Dort, wo das Leben schlimmer ist als der Tod. 29 Tage dauert die Überfahrt im Kohlenbunker, an denen die Gefangenen an Füßen aneinander gekettet im Bauch des Marinefrachters dahinvegetieren.
Das gefürchtete Gefängnis wurde 1902 erbaut. Die Insassen sind – oft zu zweit in die feuchten, finsteren Zellen ohne Belüftung zusammengepfercht – der Brutalität der Wärter ausgesetzt. Es gibt auch kleinere Zellen, in denen der Gefangene nur knien kann. Geschlagen und gequält müssen sich die Häftlinge nackt ausziehen und werden mit eiskaltem Wasser überschüttet. Die Wärter veranstalten auch sadistische Wettrennen unter den Gefangenen, angetrieben durch Peitschenhiebe. Doch Szymon entwickelt eine derartige Würde und Charakterstärke, dass die beabsichtigte Wirkung aller Erniedrigungen und Qualen dahinter verblasst. Szymon wird zum Gefangenensprecher, stellt Forderungen und organisiert Protestchöre. Die Gefängnisleitung verstärkt deshalb die Schikanen. In der Nacht wird jede halbe Stunde die Laterne vor Szymons Gesicht geschwenkt. Doch der Ruf über seine ungebrochene Menschenwürde und gelebte Solidarität verbreitet sich nicht nur unter den Gefangenen, sondern dringt bis Buenos Aires. Der Gefangene 155 erlangt landesweite Berühmtheit und Respekt.
Das treibt die Gefängnisleitung in einen unbändigen Hass auf Szymon. 1918 dringen der stellvertretende Gouverneur und drei Wärter in Szymons Zelle ein und vergewaltigen ihn hintereinander. Sie schlagen danach seinen Kopf blutig und zerfetzen ihm mit Messern und Peitschenhieben den Rücken. Davon erfahren die Genossen in Buenos Aires. Szymons Freilassung wird gefordert. Der Gefangene 155 wird zum Märtyrer von Ushuaia, besungen in den Liedern der Payadores, angestimmt bei Arbeiterdemonstrationen und Versammlungen.
Auch die liberale Presse hat das Thema längst aufgegriffen. Doch die Anarchist*innen schreiten zur Tat: Ein Befreiungsplan wird ausgearbeitet. Die Mitglieder der Gefangenenhilfsorganisation Pro Presos haben diese Flucht wochenlang organisiert. Sympathisierende Wärter wurden eingeweiht und bestochen, die Fluchthelfer vorbereitet, und der weiß angestrichene Kutter Ooky vier Tage vor der Operation in einer geschützten Bucht vor Anker gelegt. Der Kutter gehört dem neapolitanischen Anarchisten Pasqualino Rispoli, dem „letzten Piraten von Feuerland“, der sich mit Schmuggel und dem Ausplündern von Wracks über Wasser hält, offiziell aber Robben und Seeotter jagt. Im südchilenischen Punta Arenas unterstützen die dortigen Genossen der Arbeiterföderation, Ramón Cifuentes und Ernesto Medina, das argentinische Befreiungskommando. Um 7 Uhr früh verlässt Szymon unerkannt in einer Uniform der Wachleute den Kerker von Ushuaia und begegnet Apolinario Barrera, seinem ersten Fluchthelfer. Gebückt hasten die beiden im Morgengrauen an Friedhof und Garnisonsgebäude vorbei, vorbei auch am Wachposten der Präfektur, einer Kirche und der Telegrafenstation. Doch die Grenzsoldaten setzen an diesem kalten Morgen noch keinen Fuß vor die Tür. Schließlich erreichen sie im Morgennebel die inmitten von Fichten und Buschland versteckte Bucht. Im Beiboot geht es zum Kutter, der sich bereit macht, den Anker zu lichten und die Segel zu setzen, hier, nicht weit von der chilenischen Grenze. Der Wind treibt sie rasch in den Beaglekanal.
Um 9 Uhr 22 wird die Flucht in Ushuaia entdeckt. Der Gouverneur von Feuerland bittet die chilenische Marine um Beistand und bald läuft ein Dampfer aus, um die Verfolgung aufzunehmen. Im chilenischen Hoheitsgebiet nähert sich der Marineschlepper Yanez rasch dem Kutter. Nach vier Tagen steuert Rispoli die Halbinsel Brunswick an und Szymon muss ins eiskalte Wasser springen, um sich zitternd im Unterholz des Ufers zu verstecken. Inzwischen stürmen der Offizier und zwei Kadetten den Kutter, um ihn zu durchsuchen. Doch sie finden nichts außer der Besatzung und einige Passagiere, die sich als Schriftsteller ausgeben, die ein Buch über Feuerland schreiben wollen. Aber der Offizier ist misstrauisch und fordert die Besatzung der Ooky auf, der Yanez zum Hafen zu folgen. Dort werden die gesamte Besatzung und die Passagiere der Ooky festgenommen und verhört. Es ist der Maschinist der Ooky, der schließlich die Stelle verrät, wo Szymon an Land ging. Nach sieben Stunden entdeckt ein Suchtrupp aus Polizisten und Marineinfanterie den völlig unterkühlten Szymon an einer Weggabelung, zwölf Kilometer von der Stadt entfernt, in der er gehofft hatte sich verstecken zu können.
Gefesselt wird er nach Punta Arenas in Chile gebracht, wo er in die Arrestzelle der Corvette Centeno gesperrt wird. 23 Tage nach seiner Flucht wird er schließlich nach Ushuaia zurückgebracht, nach Mitternacht, um Aufstände zu vermeiden. Doch die Gefangenen erfahren davon und das Gefängnis bebt in dieser Nacht vor Zorn: „Es lebe Szymon, Tod den räudigen Hunden!“, dröhnt es durch Ushuaia. Die nächsten zwei Jahre verbringt er in Dunkelheit und Einzelhaft bei halber Ration. Mit zahlreichen brutalen Schikanen rächen sich die Wärter die nächsten Jahre für die Schmach, doch Szymon lässt sich weder brechen, noch unterjochen.
Szymon ist jetzt 27 Jahre alt und verbringt noch viele Jahre in der Hölle von Ushuaia. In Russland ist längst die Revolution ausgebrochen und der erste Weltkrieg geht zu Ende. Bald wird Machno mit seiner anarchistischen Reiterarmee in der Ukraine die soziale Revolution ausrufen und von den Bolschewiki verraten und bekämpft werden. Trotzki wird erbarmungslos den Aufstand von Kronstadt niederschlagen, und die meuternden Matrosen und Soldatenräte in Deutschland von den Sozialdemokraten mit Hilfe der Faschisten unterdrückt und massakriert werden. In Italien beginnen die „Bienni Rossi“, die roten Jahre, in denen die Anarchist*innen die Fabriken besetzen und gegen Mussolinis Schwarzhemden kämpfen werden. Überall in Europa entstehen mit dem Untergang der Monarchien faschistische Bewegungen, die den Kapitalismus vor der sich ankündigenden sozialen Revolution verteidigen, und die sich emanzipierenden Menschen mit beispiellosem Terror bekämpfen.
Auch in Lateinamerika bilden sich rechtsextreme Organisationen heraus, die Polizei und Militär bei ihrer Unterdrückung von Gewerkschaften und linken Gruppen tatkräftig und gewalttätig unterstützen. 1919, im Zuge der tragischen Ereignisse von Buenos Aires, gründete sich in Argentinien die „Liga Patriótica“. Sie bestand hauptsächlich aus wohlhabenden Großbürgersöhnchen, wurde vom Militär ausgebildet und von der Oligarchie und der Kirche finanziell unterstützt. Die Mitglieder hetzten gegen Katalanen und Juden, da sie in ihnen die anarchistische und bolschewistische Weltverschwörung sahen. In den 20er Jahren wuchs ihre Anhängerschaft extrem an. Im Massaker von Buenos Aires, am 16. Jänner 1919, wurden von der Liga Patriótica Pogrome gegen Juden und anarchistische Arbeiter verübt, an denen sich auch teilweise Streitkräfte und Polizeieinheiten beteiligten. Dabei wurden über 800 Menschen ermordet. Alles begann im Dezember 1918 mit einem Streik in der Vasena Metallhütte in den Vororten von Buenos Aires, in Nueva Pompeya. Bei einem Schusswechsel zwischen Streikposten auf der einen und Polizisten, Soldaten und Feuerwehrleuten auf der anderen Seite wurden am 7. Jänner 1919 fünf Arbeiter getötet. Als die Toten in einem gigantischen Trauerzug beerdigt wurden, eröffnete die Polizei abermals das Feuer. Daraufhin wurde der Generalstreik ausgerufen, der vom 11. bis zum 12. Jänner anhielt. Viele Arbeiter bewaffneten sich, vereinzelt wurden Waffengeschäfte geplündert. Doch jetzt reagierten die Uniformierten mit der Hilfe rechtsextremer Jugendlicher überfallsartig mit erneuter Gewalt, die nicht mehr in einzelnen Schießereien und Barrikadenkämpfen bestand, sondern aus Pogromen und gezielten Lynchmorden, sowie dem Niederbrennen ganzer Arbeiterviertel. Menschen wurden aus ihren Häusern gezerrt und erschlagen oder erschossen. Im Verlauf dieser Ereignisse gründete sich eben jene besagte „Liga Patriótica“. 4.000 Menschen wurden verletzt, 800 getötet und 50.000 inhaftiert. Diese sogenannte „Semana Trágica“ beschleunigte den späteren Niedergang des Anarchismus als Massenorganisation in den 30er Jahren in Argentinien.
Der 1919 herrschende Präsident, der pragmatische Populist Hipólito Yrigoyen von der bürgerlich-liberalprogressiven „Radikalen Partei“, stand nun vor dem Dilemma eines Militärputsches oder aber einer sozialen Revolution. Also deeskalierte die Regierung, erfüllte alle ursprünglichen Forderungen der Streikenden, die Entlassenen wurden wieder eingestellt, die schlimmsten Mordbrenner angeklagt, Polizei und Militär zurückgepfiffen. Doch die Anarchist*innen inner- und außerhalb der FORA spalteten sich an der Gewaltfrage. Die einen wollten nicht länger warten und sofort auf den bewaffneten Aufstand hinarbeiten. Die anderen wollten angesichts der ungleichen Kräfteverhältnisse sowie der mangelnden Bewaffnung weiter wie bisher in kleinen Schritten voranschreiten und die proletarische Massenorganisation stärken, bis sie eines Tages so groß wäre, um für den Kampf endgültig bereit zu sein.
Spaltungen waren nichts Neues im argentinischen Anarchismus, denn diese wurden mitsamt dem anarchistischen Gedankengut aus den Ursprungsländern, wie Italien und Spanien, importiert. Am Anfang stand der Gegensatz der Organisationsfrage. Befürworterinnen großer Massenorganisationen standen im Diskurs mit Befürworterinnen kleiner, spontaner Aktionsgruppen, die klandestin auf den bewaffneten Aufstand hinarbeiten, um die soziale Revolution einzuleiten. Dann wurde die „Propaganda der Tat“ zur „Propaganda der Rache“. Die beispielgebende Wirkung eines Aufstandes zum politischen Attentat. Schließlich entfremdete sich die Idee des Syndikalismus vom Anarchismus, aus dem er geboren wurde, und die anarchistischen Massengewerkschaften spalteten sich in gemäßigtere Syndikalistinnen und revolutionäre Anarcho-Syndikalistinnen.
Jetzt, 1919, stand die Gewaltfrage im Vordergrund: sofort losschlagen oder strategisch und organisiert vorgehen? Irgendwie schloss sich der Kreis wieder hin zum Anfang der Debatten. Dies alles führt zurück auf die erbarmungslose Verfolgung der antiautoritären Internationalen, also der Anarchistinnen, seit der Niederschlagung der Pariser Kommune 1871. Die brutale Verfolgung war es, die die meisten Anarchistinnen Europas nach Nord- und Südamerika trieb, auch nach Ägypten und Tunesien und in andere Weltgegenden. Nach dem Scheitern der Aufstände in Italien und Spanien in den 1870er Jahren und den immer brutaleren Repressionswellen ab 1880 und verstärkt in den 1890er Jahren, regte sich zunehmend Kritik am Festhalten am Konzept einer Internationalen Massenorganisation.
Nach dem Attentat auf den Zaren Alexander den Zweiten durch die Narodniki am 13. März 1881 beschlossen die Anarchistinnen, sich notfalls auch mit Gewalt gegen Gewalt zu verteidigen: Zwischen 1891 und 1900 fanden die meisten Attentate, vor allem in Frankreich, aber auch in Russland und Italien, statt. Als schließlich in Frankreich die Idee des Generalstreiks wieder populär wurde, stürzten sich die Großmächte in imperiale Abenteuer, und züchteten sich ihre patriotischen Massenbewegungen, die in den Faschismus führen sollten. Die Anarchistinnen kämpften an allen Fronten, waren sich untereinander in verschiedenen Punkten uneinig, und wurden erbarmungslos verfolgt. Also wurden in alle Welt nicht nur der Anarchismus, sondern mit ihm auch seine eigenen Spaltungen, Widersprüche und Diskurse mitimportiert. Manchmal können solche Widersprüche auch Chancen zur Weiterentwicklung bieten. Aber in der Situation der argentinischen Anarchist*innen trug die Spaltung angesichts des sich aufrüstenden Feindes eher zur Schwächung der Bewegung bei.
Der Ton verschärfte sich, „La Antorcha“ wurde das Organ der Radikalen, „La Protesta“ das der „Besonnenen“. Die einen schimpften die anderen „Reformisten“, die jene wiederum als „Provokateure“ oder Hitzköpfe verschmähten. Auf den traditionellen Picknicks der Anarchist*innen im Delta des Rio Paraná hielten nun die einen Schießübungen ab, während die anderen beim Lesen und Essen Angst vor verirrten Kugeln hatten. Die einzige Zusammenarbeit fand schließlich nur noch in der Gefangenenhilfe statt, dem „Comite Pro Presos“. Die herrschende Klasse, und mit ihr die faschistische „Liga Patrioticá“, bekämpfte unterdessen die Arbeiterbewegung immer weiter, und aus der „revolutionären Offensive“ wurde immer mehr eine „Verteidigung der Verteidigung“.
Szymon Radowicki stärkte inzwischen das Bewusstsein seiner Mitgefangenen durch sein Beispiel, sich nicht zu fügen und praktisch gelebte Solidarität. Was er seinen Gefährten im fernen Buenos Aires geraten hätte, oder hat, ist nicht bekannt. Hier in Feuerland, Patagonien, gibt es keinen Anlass zur Spaltung, denn das unmittelbare Überleben ist mit dem Kampf um Freiheit und Menschenwürde untrennbar verbunden.
Immer wieder gibt es in Buenos Aires Kampagnen für die Freilassung von Szymon, aber Justiz und bürgerliche Presse arbeiten Hand in Hand. Doch 1920 scheint sich gerade in Patagonien das Blatt zugunsten der Anarchistinnen zu wenden, ohne dass Szymon in seinem Verlies zunächst etwas davon mitbekommt. Ende 1920 beginnt sich großer Unmut unter den größtenteils chilenischen Landarbeiterinnen Patagoniens breitzumachen. Meist indigener Herkunft fristen die Peyones ein sklavenartiges Dasein auf den großen Besitztümern in Patagonien, die überwiegend in britischer Hand sind. Die Arbeiter*innen stellen zunächst harmlose Forderungen, bitten um Kerzen und Decken für die rauen Nächte, um die Abmilderung der schlimmsten Bedingungen ihrer schlecht bezahlten Arbeit. Die lokalen Gewerkschaften unter anarchistischer Führung organisieren einen Arbeitskampf.
Zwei Mal entsendet der pragmatische Präsident Yrigoyen Militärexpeditionen nach Patagonien. Nach der ersten Offensive sind die Großgrundbesitzer, die Konservativen und die Liga Patriótica jedoch mit dem Ergebnis sehr unzufrieden: Denn letztendlich sollten die Forderungen weitestgehend erfüllt werden, womit die Armee wieder nach Buenos Aires zurückkehrt und die Gewerkschaftssektionen gestärkt sind. Daraufhin üben die Rechten enormen Druck auf die Behörden aus, greifen die Gewerkschaftsföderationen an und die Unternehmer und Großgrundbesitzer brechen einfach die schon ausverhandelten Verträge. In der Folge streiken die Föderationen mit den Landarbeiter*innen erneut, ziehen von Estanzia zu Estanzia und besetzen diese. Auf Yrigoyen wird inzwischen von Unternehmerverbänden und Großgrundbesitzern enormer Druck ausgeübt, und so zitiert er noch einmal Coronel Héctor Varela zu sich, um ihm augenzwinkernd aber unausgesprochen zu verstehen zu geben, im aufständischen Patagonien gründlich aufzuräumen, ganz pragmatisch, versteht sich …
Coronel Varela erfüllt, ganz Staatsräson, seinen Auftrag gründlich und erbarmungslos. Mit seinem 10. argentinischen Regiment lässt er tausende verarmte Landarbeiterinnen verfolgen und massakriert sie dutzendweise. Inzwischen wird von tausenden Landarbeiterinnen vielerorts die soziale Revolution ausgerufen und Großgrundbesitzer werden als Geiseln genommen. Doch Varelas Bewaffnung lässt den Aufständischen nur die Wahl zwischen Flucht oder Verhandlungen. Gnadenlos jagt Varela alle Landarbeiter*innen und massakriert sie, größtenteils werden ihre Leichen mit Benzin überschüttet und angezündet. Teilweise müssen sie ihre Gräber selbst ausheben. Gefesselt werden die anarchistischen Gewerkschaftsaktivisten hingerichtet, Varela wäscht seine Hände in Unschuld. Präsident Yrigoyen erst recht. Szymon bekommt von alledem vorerst nichts mit. Und bis die Geschehnisse von 1922 ins ferne Buenos Aires dringen, vergehen viele Monate.
Einige Aufständische, vor allem diejenigen, die sich nicht auf Varelas fadenscheiniges Angebot von Verhandlungen eingelassen haben, überleben durch halsbrecherische Flucht über die Berge, so wie der Anarchist der Arbeiterföderation von Rio Gallegos, Antonio Soto, der nach Chile entkommt. Andere Anarchist*innen, wie der berühmte Gaucho Facón Grande, werden gefesselt und hingerichtet. Über 1.800 Tote fordern die Hinrichtungen.
Als die Anarchist*innen in Buenos Aires Protestkampagnen entfesseln und sich die liberale Regierung Yrigoyen unwissend gibt, wird der grausame Vollstrecker der Staatsräson, Coronel Héctor Varela, schließlich vom deutschen Anarchisten Kurt Gustav Wilckens am 27. Jänner 1923 erschossen. In Untersuchungshaft wird Wilckens wiederum von einem als Wärter eingeschleusten Mitglied der Liga Patriótica erschossen. Dieser fanatische Faschist namens Temperley kommt in die Psychiatrie, wo er vom geisteskranken Jugoslawen Lucich erschossen wird mit den Worten „Dies schickt dir Wilckens!“ Die Pistole hatte er vom russischen Arzt und Wissenschaftler Boris Wladimirovich. Dieser Anarchist hatte eine Wechselstube ausgeraubt, wurde, obwohl niemand zu Schaden kam, zum Tod, und dann zu lebenslänglicher Haft in Ushuaia verurteilt. Ob er dort Kontakt zu Szymon hatte? Jedenfalls ließ er sich, eine Geisteskrankheit simulierend, ins Irrenhaus nach Buenos Aires verlegen, wo er Lucich zur Tat überredete, da er keinen Zugang zum Trakt Temperleys hatte.
Auch die Solidaritätskampagnen für Szymon Radowicki gehen in den 20er Jahren weiter. Am 6. Juni 1925, als der 25. Jahrestag der Thronbesteigung Viktor Emanuels III. im Teatro Colón in Buenos Aires gefeiert wird, schmeißen Severino di Giovanni und andere Anarchisten antifaschistische Flugblätter in den Saal und werden von der den italienischen Botschafter beschützenden, angereisten Schutztruppe der Schwarzhemden überwältigt und der Polizei übergeben. Als die US Klassenjustiz Sacco und Vanzetti am 16. Mai 1926 zum Tod verurteilt, sprengt Severino di Giovanni die amerikanische Botschaft in Buenos Aires in die Luft. Zumindest die Fassade wird völlig zerstört. In der ganzen Welt finden Solidaritätskampagnen für Sacco und Vanzetti statt, auch in Argentinien. Am 22. Juli 1927 sprengt Severino di Giovanni die George Washington Statue in Palermo sowie ein Gebäude der Ford Company. Am 23. August 1927 werden Sacco und Vanzetti in Charlestown, Massachusetts, auf dem elektrischen Stuhl hingerichtet. Am 23. Mai 1928 sprengt Severino di Giovanni das italienische faschistische Konsulat in Buenos Aires. Im Jahre 1928 wird Yrigoyen erneut zum Präsidenten gewählt. Mit der Weltwirtschaftskrise erhält die rechte Oppositionsbewegung noch mehr Zulauf, Pläne für einen Staatsstreich werden geschmiedet. Nach 16 Jahren „parlamentarischer Demokratie“ verübt General José Félix Uriburu mit der Liga Patriótica am 8. September 1930 einen Militärputsch und regiert bis zum 20. Februar 1932. Die anarchistische FORA geht sofort in den Untergrund. Einige Herausgeber von „La Protesta“ werden gefangen genommen und hingerichtet.
Kurz vor dem Staatsstreich hat Szymon Radowicki nach seiner Höllenzeit in Ushuaia Glück im Unglück: Im Rahmen einer allgemeinen Amnestie wird er begnadigt aber gleichzeitig aus Argentinien abgeschoben. Er gelangt nach Uruguay, engagiert sich in den dortigen Anarchistenkreisen, hält Vorträge, schreibt und erledigt Kurierdienste für brasilianische Anarchist*innen.
Unterdessen wird Severino di Giovanni am 1. Februar 1931 von einem Militärgericht zum Tod verurteilt und hingerichtet. „La Protesta“ erscheint nicht mehr, stattdessen bringen die Redakteure eine Untergrundzeitung namens „Rebelion“ heraus. Nach der Aufhebung des Kriegsrechtes 1932 veröffentlicht „La Protesta“ gemeinsam mit „La Antorcha“ und den FORA-Gewerkschaften in Santa Fe und Rosario ein gemeinsames Manifest über die Repressionen, die sie während der Diktatur erlitten hatten. In diesem Jahr findet auch die zweite anarchistische Konferenz in Rosario statt. Hier wird die Grundlage für die anarchistische Koordination gelegt, die schließlich 1935 zur Gründung der „argentinischen anarcho-kommunistischen Föderation“ (FACA) führt.
In Uruguay wird Szymon Radowicki 1934 durch die Verfolgung des neuen Diktators Gabriel Terra verhaftet und auf die Isla de Flores im Rio de la Plata verbannt. Der seit 1930 regierende Gabriel Terra ernennt sich 1933 zum Diktator, unterdrückt 1935 brutalst eine Revolte und herrscht bis 1938. Zwei Jahre verbringt Szymon unter furchtbarsten Bedingungen auf der Isla de Flores. Schließlich gelingt ihm die Flucht und er beschließt 1936 nach Spanien zu gehen, um die dortige anarchistische Revolution zu unterstützen obwohl er gesundheitlich in schlechter Verfassung ist. Szymon ist jetzt 45 Jahre alt.
Er geht an die Aragon Front und kämpft mit der anarchistischen 28. Division unter Gregorio Jover Cortés. An der Front trifft er Antonio Casanova wieder, einen der Begründer der FACA, der ursprünglich aus Galizien kam und schon sehr früh nach Argentinien auswanderte. Sie werden gute Freunde. Später arbeitet Szymon für die Kulturabteilung der CNT in Barcelona. Mit Francos Sieg 1939 flieht -Szymon Radowicki schwer tuberkulosekrank nach Frankreich. Er wird im Konzentrationslager Saint-Cyprien interniert. Die Zustände im Lager sind katastrophal. Einem Arzt gelingt es, den kranken Szymon mit kubanischen Papieren über Montpellier und Belgien nach Mexiko zu verschiffen.
In Mexiko begegnet er wieder seinem Freund Antonio Casanova. Als Raul Gomez lebt er ab 1940 in Mexiko, wo er zuerst einen Job als Angestellter des uruguayanischen Konsulats hat. Er schreibt unentwegt für anarchistische Zeitungen in Mexiko und arbeitet, gemeinsam mit dem Anarchisten Augustin Souchy, in der mexikanischen Sektion des Internationalen Hilfskomitees, um politische Flüchtlinge zu unterstützen und Care-Lebensmittelpakete zu verschicken. Mit 54 Jahren erlebt Szymon das Ende des Zweiten Weltkrieges.
Aber er erlebt auch die Tragödie, dass die Alliierten bewusst Spanien im Stich lassen, und sieht Franco an der Macht. Er erlebt auch die Tragödie des Perónismus in Argentinien, der es verstand – ähnlich wie Erdogan – die Arbeiter*innen zu einem nationalen Schulterschluss zu überreden und mit Zuckerbrot und Peitsche bei der Stange zu halten und dabei Gewerkschaften und Arbeiterbewegung zu absorbieren, so wie die deutsche Arbeitsfront, nur mit dem Schuss „Evita fürs Volk“. Die Einheitsgewerkschaft UGT, in der sich Syndikalisten, Kommunisten und Sozialisten wiederfinden, bedeutet das Ende der unabhängigen argentinischen Arbeiterbewegung. Dies ist das Ende des Massenanarchismus in Argentinien. Auch erlebt er die Tragödie des Stalinistischen Zwangsarbeitsstaates, der die logische Folge des autoritären Kommunismus ist.
Schließlich arbeitet er in einer Spielzeugfabrik und lebt auf einem heruntergekommenen Dachboden eines Mietshauses. Mit Szymons Gesundheit geht es immer mehr bergab. Am 29. Februar 1956 stirbt Szymon Radowicki mit 65 Jahren während der Arbeit in der Spielzeugfabrik an einem Herzinfarkt.
Brief Radowickis aus Montevideo an die Kommunistische Partei Uruguays, 1936
To the Communist Party and the National Confederation of Labor
I have learned of your propaganda and posters, in which my name figures demanding my freedom. As an anarchist I say to you: I declare that I don’t wish to be the propaganda instrument of any political party, including the Communist Party, whose support of the policies of the Russian government is absolute. In the name of the anarchist prisoners in prisons and Soviet Siberia; in the name of the destroyed anarchist groups whose propaganda is prohibited in Russia; in the name of the comrades executed at Kronstadt; in the name of our comrade Petrini who was handed over to Italian fascism by the Soviet government; in the name of the Argentine Regional Workers Federation and the -Uruguayan Regional Workers Federation; in the name of our comrades killed in prison by the Bolshevik government; and in protest against the calumnies and defamation against our comrades Kropotkin, Malatesta, Rocker, Fabbri, Makhno, etc, etc, I declare that as an anarchist I reject all of your support, which represents an unworthy exploitation on the part of the Bolshevik leaders of the party and the CGT of the generous sentiment of solidarity shown to me by the working class.
Historischer Abriss des Anarchismus in Argentinien
Die ersten Gruppen des Anarchismus erscheinen in Buenos Aires 1872 als Solidaritätsgruppen der 1. Internationale.
1876 gründen Bakuninisten das Zentrum für Arbeiterpropaganda. 1885 Errico Malatesta und seine Gefährtinnen müsen nach Argentinien flüchten.
1887 wird von Malatesta die erste anarchistische Gewerkschaft -Argentiniens gegründet, eine Bäckergewerkschaft. Dann folgen die Schuhmacher.
1890 wird die Zeitung „El Perseguido“ gegründet. Schon zu dieser Zeit dringt mit den laufenden Immigrationen der Gegensatz zwischen Befürwortern und Gegnern von Arbeiterorganisationen nach Argentinien. Malatesta gelingt es bis zu seiner Abreise 1889 die Bewegung dennoch zu einen. Danach brechen die Konfrontationen wieder aus.
1891 werden die „Organisatoren“ durch die Ankunft des Spaniers Antoni Pellicer gestärkt.
1897 wird die Tageszeitung „La Protesta Humana“ gegründet.
1898 kommt das Organisationstalent und gleichzeitige Poet Pietro Gori aus Italien in Buenos Aires an. Das duale Organisationskonzept von militanter Gewerkschaft und anarchistischer Organisation wird entwickelt.
1901 wird mit Pietro Goris Hilfe die FOA gegründet, die argentinische Arbeiterföderation aus Anarchistinnen und Sozialistinnen.
1902 erster Generalstreik Argentiniens. Die Regierung reagiert mit einem repressiven Anti-Ausländergesetz, dem sogenannten „Ley de residencia“, um sogenannte subversive Ausländerinnen schneller abschieben zu können. Hunderte Anarchistinnen giehen nach Montevideo in Uruguay, dutzende werden nach Italien oder in andere Länder abgeschoben.
1902 wird das Hochsicherheits-gefängnis in Ushuaia, Feuerland, erbaut.
1903 wird „La Protesta Humana“ in „La Protesta“ umbenannt. Der gemäßigte Flügel der FOA, die Sozialisten, verlässt diese und gründete die UGT.
1904 wird als Tribut an den internationalistischen Geist der Anarchist*innen die FOA in FORA umbenannt. („Regionale“ argentinische Arbeiterföderation)
1904 1. Mai, 70.000 Arbeiter*innen folgen dem Aufruf der FORA zum Aufmarsch.
1905 werden auf dem fünften Kongress der FORA die Einhaltung der anarchistischen Prinzipien nachdrücklich festgeschrieben.
1905 gibt es viele Streiks. In der Folge ist die FORA sehr erfolgreich, denn die Sonntagsarbeit werde verboten und das Streikrecht in die Verfassung aufgenommen. Renten-, Unfall- und Arbeitslosenversicherung, später noch der 8-Stunden-Tag, gehen auf die direkten Aktionen der FORA zurück. Die revolutionären Syndikalistinnen spalten sich aber vom Anarchismus ab, da sie denken, der Syndikalismus wird sich selbst genügen, die angestrebte Gesellschaft solle einzig der organisierten Gewerkschaftsstruktur folgen. Für die Anarchistinnen aber haben Gewerkschaften eine Doppelfunktion: Einerseits sollen sie auf direktem Weg ohne Vermittlungsfunktion des Staates für verbesserte Lebens- und Arbeitsbedingungen im Hier und Jetzt sorgen, andererseits soll die Gewerkschaft, der Generalstreik, nur das Werkzeug (!) zur Verwirklichung der sozialen Revolution sein, weder einen „neuen Staat“ hervorbringen, noch als „Mythos“ fungieren. Die rein syndikalistische CORA gründet sich.
1909 feuert die Polizei unter Coronel Lorenzo Falcón am 1. Mai in die Arbeiterkundgebung. Die „Rote Woche“ geht los. Die Büros von La Protesta werden geplündert, die Druckerei zerstört. Das Kriegsrecht wird ausgerufen, tausende Arbeiter*innen verhaftet, deportiert, oder nach Ushuaia gebracht. Bis 1910 hält das Kriegsrecht an.
1909, am 14. November, tötet Szymon Radowicki den Massenmörder, Offizier und Chef der argentinischen Bundespolizei, Ramón Lorenzo Falcón.
1910 wird eine neue Tageszeitung gegründet, „La Batalla“ (der Kampf). Die FORA organisiert Proteste gegen das Aufenthaltsgesetz im Rahmen des hundertsten Jahrestages der Mai--Revolution von 1810, die zur Unabhängigkeit Argentiniens am 9. Juli 1816 führt. Doch die Regierung verhängt am 13. Mai erneut das Kriegsrecht. Die rechtsradikalen Jugendlichen greifen Gewerkschaftsbüros und Arbeiterklubs an, die Polizei hilft ihnen dabei. Zu dieser Zeit gibt es 60 verschiedene anarchistische Blätter in Argentinien, Tageszeitungen und Wochenzeitungen. „La Antorcha“, „La Batalla“ und „La Protesta“ sind die bedeutendsten.
1910 wird Szymon Radowicki verurteilt. Die Regierung der korrupten „Partido Autonomista“ verabschiedet das Gesetz „zur sozialen Verteidigung des Staates“, das die Einreise von Anarchist*innen verweigert, anarchistische Propaganda und öffentliche Versammlungen verbietet.
1915 stimmt die Mehrheit der FORA auf dem neunten Kongress für eine Fusion mit den ehemals abgespalteten, gemäßigten Syndikalisten der CORA. Ein Teil beruft sich allerdings auf den fünften Kongress von 1905, und wird dadurch zur abtrünnigen, rein anarchistischen FORA V, die im Landesinneren am stärksten ist.
1916 kommt die „radikale“ (liberale) Partei unter Hipólyto Yrigoyen an die Macht.
1917 bricht ein Eisenbahnerstreik aus, den die FORA V zu einem Generalstreik führen will, doch die Hilfe der FORA 9 bleibt aus.
1918 wird ein anarchistisch geführter Streik der Fleischverpacker in Berisso und Avellaneda militärisch besiegt.
1918 / 1919 Streik der Vasena Metallhütte führt zur Semana Tragica mit 800 Toten, 4.000 Verletzen und 52.000 Verhafteten. Lynchmorde, Pogrome und Brandschatzungen der faschistischen Liga Patriótica und der Polizei, sowie des Militärs. Synagogen werden abgebrannt, Arbeiter*innen erschlagen. Spaltung über die Gewaltfrage. Zeitungen „La Antorcha“ (die Fackel) und „La Protesta“ polemisieren gegeneinander.
1920–1922 Aufstand in Patagonien, 1.800 ermordete Peyones und Anarchosyndikalist*innen.
1922 Große Anarchistische Konferenz in Buenos Aires.
1923 23. Jänner, Mord am Schlächter von Patagonien Héctor Varela durch den deutschen Anarchisten Kurt Gustav Wilckens.
1926–1928 Severino di Giovanni sprengt verschiedenste Gebäude in die Luft.
1930 Szymon Radowicki verlässt mit einer Amnestie den Kerker und wird ausgewiesen.
1930 / 1931, Félix Uriburu verübt mit der Liga Patriótica einen Staatsstreich. Er regiert mit Kriegsrecht bis 1932. FORA und „La Protesta“ gehen in den Untergrund, bringen „Rebelion“ heraus. Viele von ihnen werden verfolgt, gefoltert und hingerichtet.
1931, 1. Februar, Severino di Giovanni wird hingerichtet. Nach der Aufhebung des Kriegsrechtes 1932 veröffentlichen „La Antorcha“, „La Protesta“ und die FORA Syndikate von Rosario und Santa Fe ein gemeinsames Manifest „18 Monate militärischer Terror“. Die zweite Anarchistische Konferenz findet in Rosario statt.
Das neue Regionalkomitee für Anarchistische Koordination führt schließlich zur Gründung der anarchokommunistischen Föderation (FACA) 1935.
1936 viele Anarchist*innen gehen nach Spanien. Die Zeitung der FACA „Accion Libertaria“ verbreitet Sonderausgaben zur Spanischen Revolution. In Argentinien folgt ein Putsch dem anderen, das Militär etabliert sich als ununterbrochener Machtfaktor, der Oligarchie folgend, aber auch in eigene Machtkämpfe verstrickt.
Zwischen 1943 und 1946 erschleicht sich der junge General Juan Perón erfolgreich die Macht: Der Hitler-Bewunderer macht als Arbeitsminister Zugeständnisse an die Gewerkschaften und verkauft sich den Unternehmern gleichzeitig als strammer Antikommunist und Erhalter des sozialen Friedens.
1945 protestiert eine breite Oppositionsbewegung gegen das Militär und die faschistischen Kreise um Perón. Das Militär fürchtet eine Ausweitung der Proteste, entlässt Perón und verhaftet ihn später schließlich. Die Gewerkschaften, allen voran die CGT, protestieren jedoch für die Freilassung Peróns. 300.000 Arbeiter*innen demonstrieren an diesem Tag, worauf das Militär nachibt und Perón freilässt. Dieser ruft sofort zu Wahlen auf und gewainnt diese 1946.
Die Gewerkschaften werden schließlich perónistisch und verschmelzen immer mehr zur Einheitsgewerkschaft. Das bedeutet das Ende der anarchistischen Massenarbeiterbewegung Argentiniens. Einige FORA-Mitglieder werden verhaftet und gefoltert.
1952 schließem sich die Anarchist*innen aller Fraktionen zusammen, um eine breit angelegte Informationskampagne über diese wenig bekannten Ereignisse zu verbreiten.
1955 putscht das Militär den bei großen Teilen der Oligarchie unbeliebten Perón wieder aus dem Präsidentensitz. Doch aus dem Exil in Francos Spanien heraus bleibt er bei den Arbeiterinnen populär, weshalb die Anarchistinnen nie wieder einen so großen Einfluss in der Arbeiterbewegung erreichen können wie früher. Wahlen werden wieder abgehalten und anarchistische Zeitungen wie „La Protesta“ und „Accion Libertaria“ erscheinen wieder.
1955 wird die FACA in die FLA (argentinische libertäre Föderation) unbenannt.
Am 29. Februar 1956 stirbt Szymon Radowicki in Mexiko.
1965 gibt es Arbeiterunruhen aufgrund der schlechten Wirtschaftslage, was zu einem erneuten Putsch am 28. Juni 1966 durch General Juan Carlos Onganía führt. Es entwickeln sich im Schatten des Perónismus linksgerichtete studentische Guerillaverbände, wie die linksperónistischen Montoneros, die ELN und die kommunistischen ERC. Aber auch anarchistisch inspirierte Guerilleros kämpfen gegen das Regime.
1968 organisiert die FORA nach 40 Jahren ohne Gewerkschaftskongresse ihren elften Kongress in Buenos Aires, der jedoch den weiteren Niedergang nicht aufhalten kann.
In den 1970er Jahren wird die gewerkschaftliche Tätigkeit aufgegeben.
Perón kehrt am 20. Juni 1973 nach Argentinien zurück. Bei der Kundgebung zu seiner Rückkehr am Flughafen kommt es zu Ausschreitungen zwischen linken und rechten Perónisten, Polizei und Militär mit hunderten Toten. Doch Perón macht rechte Politik und etabliert die faschistischen AAA Todesschwadronen.
1974 stirbt Perón, ihm folgt Isabel Perón.
1976 putscht das Militär unter Jorge Rafael Videla, der mit den zahlreichen linksorientierten Gruppen aufräumen will. Dutzende Menschen verschwinden spurlos, werden von Kommandos in grünen Limousinen der Marke „Ford Falcon“ (!) gekidnappt, zu Tode gefoltert und im Meer entsorgt. 30.000 Menschen "verschwinden" auf diese Weise.
1982 der Falklandkrieg soll sowohl für England als auch für Argentinien patriotische Gefühle ankurbeln, um von der wirtschaftlichen und politischen Misere abzulenken. 1983 endet das Regime und Raúl Alfonsin wird demokratisch gewählt.
Und so wechseln sich seither Regierungen ab, eine korrupter als die andere.
1986 wird von der FLA die Zeitung „Accion Libertaria“ durch die Zeitschrift „El Libertario“ ersetzt. Die FORA fristet heute ein stilles Dasein als Sektion der Internationalen ArbeiterInnen-Assoziation unter dem Namen FORA-AIT und gibt die Zeitschrift „Organización Obrera“ heraus, hat jedoch kaum noch Bedeutung in der Arbeiterbewegung Argentiniens.
Als IWF-Maßnahmen 2001 das Land in den finanziellen Ruin treiben, müssen die Regierenden mit dem Hubschrauber flüchten. Der Aufstand wird vom Militär blutig niedergeschlagen. Es gibt 28 Tote.
Trotzdem werden viele verlassene Betriebe reaktiviert und in Selbstverwaltung fortgeführt. Die „Piqueteros“, die Straßenbesetzerbewegung, organisieren in weiterer Folge Tauschringe und verschiedenste Basis- und Selbsthilfeinitiativen und werden gemeinsam mit den Müllsammlern „Cartoneros“ und den Kochtopfdemonstranten „Cacerolazos“ zu Sozialhilfeorganisationen, die sich solidarisch um die Ärmsten kümmern und Mitgliedsbeiträge einheben. Später, als die wirtschaftliche Lage sich erholt, werden sie jedoch mangels politischer Visionen von den Parteien absorbiert und die Machtstrukturen der Parteien und Konzerne bemächtigen sich wieder des Landes.
Die Perónisten schwingen sich wieder auf den Staatsapparat und regieren, korrupt wie üblich, bis 2015.
Als Mauricio Macri, der neoliberale Kandidat des IWF, 2015 / 2016 an die Macht kommt, wird mit jeder verbliebenen sozialen Errungenschaft kurzer Prozess gemacht, das Land und seine Bewohner*innen an den Höchstbietenden verkauft. Das Land wird ausgeplündert, ganze Belegschaften entlassen und Sozialleistungen entsorgt, während Bonzen, Banken und Konzerne mit Steuervergünstigungen belohnt werden.
Die Mapuche, Ureinwohner*innen des Landes Patagonien, in Chile und Argentinien immer schon mit Feuer und Schwert verfolgt, werden wieder zunehmend kriminalisiert, verfolgt und vertrieben. Den Konzernen, wie Benetton und anderen, sind sie ein Dorn im Auge. Aber auch der Staat würde sie am liebsten ausrotten, wie schon damals, als die Vorfahren der jetzigen Minister und Großgrundbesitzer in der großen „Wüstenkampagne“ von 1880 einen Genozid an den Mapuche und Tehuelche verübten. Ihr Land wird permanent mit Stacheldraht eingezäunt, Gendarmerie und Militär jagen sie mit scharfer Munition, wenn sie dagegen protestieren. Zahlreiche Mapuche sind seit 2016 von der Polizei, meist von hinten, erschossen worden oder sitzen in Gefängnissen in Chile und Argentinien.
Am 1. August 2017, als die Cops die Mapuche Siedlung Pu Lof gewaltsam räumen, ihre Hütten niederbrennen und ihre Habseligkeiten zerstören, fliehen diese über einen Fluss. Unter ihnen befindet sich aus gelebter Solidarität ein Anarchist aus Buenos Aires: Santiago Maldonado. Am Flussufer beobachten Zeugen, dass er es nicht mehr schafft über den Fluss zu kommen und von den Cops geschlagen wird. Sie haben ihn erschlagen, seine Leiche drei Monate lang versteckt. Das empört die ob des -„Verschwinden-Lassens“ bereits sensibilisierte und traumatisierte Öffentlichkeit Argentiniens, und nicht nur in Buenos Aires werden riesige Kundgebungen hunderttausender Menschen abgehalten. Gleichzeitig erreicht der gerechte Kampf der Mapuche die großen Städte Argentiniens und verbindet Arbeitskämpfe mit dem Kampf gegen die Staatsgewalt und schließlich dem Kampf gegen das kapitalistische Regime, das unser aller Leben zerstört. In Italien, London, Paris, Wien, Berlin oder Amsterdam demonstrieren Menschen vor den Botschaftsgebäuden Argentiniens und Chiles oder den Benetton-Filialen. Der Geist der internationalen Solidarität hat keine Grenze und kein Vaterland.
Osvaldo Bayer, der libertäre argentinische Schriftsteller mit Tiroler Wurzeln, hat diese ganze Geschichte, den „Aufstand Patagoniens“, vor dem Vergessen bewahrt, muss deshalb selbst flüchten und um sein Leben fürchten, und ist am 24. Dezember 2018 in Buenos Aires gestorben. Er hat uns geschichtliches Bewusstsein zurückgegeben, das uns leider jeden Tag genommen wird. Die Menschen erinnern sich in Argentinien, trotz der heuchlerischen Politik von Perónisten, Sozialdemokraten und Kommunisten aller Couleur verstärkt der anarchistischen Geschichte. 2003 wird beispielsweise die Plaza Ramón L. Falcón durch eine Volksabstimmung in Plaza Simón Radowitzky umbenannt.
Anarchist*innen werden mit Feuer und Schwert, mit Säbeln und Kanonen, schließlich mit Panzern und Maschinengewehren bekämpft, immer dann, wenn ihre Utopie droht, wahr zu werden, Gestalt anzunehmen. Kaum sind sie besiegt, fallen sie der Verleumdung und dem kollektiven Vergessen zum Opfer, damit nichts jemals vom Naheliegenden Zeugnis gibt: Der Vereinbarkeit von Freiheit und Sozialismus!