Sofia “Son’ka” Blyuvshtein
* um 1846 Povozki, Warschau (Polen); † 1902 Sachalin (Russland); Gebiet: Russisches Zarenreich
Von Sofia „Son’ka“ Blyuvshteins Leben gibt es viele vermeintliche "Wahrheiten" und nicht minder wenige "Märchen". Wer sie ist, wo sie herkommt, was sie tut und wie sie endet liegt im Ermessen des jeweiligen Betrachters und der persönlichen Interpretation. Fakt ist, dass sie eine der größten Trickbetrügerinnen und Diebinnen der Weltgeschichte ist.
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Galerie
Sofia Son`ka Blyuvshtein
Byluvshtein umgibt sich bei ihren listenreichen Unternehmungen stets mit klingenden Adelsnamen, wie z.B. dem der hier abgebildeten Baronin Buxhoeveden
Im tschechischen Kurort Marienbad lässt sie so manchen Champagner fließen
"The golden hand" nach ihrer Ergreifung durch die zaristische Polizei
Son`ka versucht nach ihrer Deportation auf die Strafinsel Sachalin (westpazifische Küste Sibiriens) mehrmals zu flüchten. Folgen davon sind nochmalige verschärfte Bedingungen wie Einzelhaft und das Anketten der Hände
Für die ehemalige Meisterdiebin und Herzensbrecherin wird es zur größten Schmach, dass Besucher*innen der Strafinsel Fotos von ihr schießen dürfen. Diese bringen sie dann zum Teil als Postkarten in Umlauf
Der russische Schritsteller Anton Tschechow besucht die Strafinsel und erwähnt Blyuvshtein 1890 in einem seiner Bücher: "Sie ging und schien die ganze Zeit an der Luft zu schnüffeln, wie eine Maus in einer Mausefalle."
"Sonya, lass uns gute Diebe werden". Am Moskauer Wagankowski Friedhof gibt es eine Statue, die Blyuvshtein zugeordnet wird. Der Ort gilt der russischen Diebesgilde als Pilgerstätte
The Golden Hand
Eine Frau, die das Leben in vollen Zügen genießt, unfreiwillig gesponsert von jenen triebgesteuerten Männern, die einem „hübschen Ding“ nicht widerstehen können oder weil sie jene film- und komödienreif anschwindelt. Selbst als die Polizei sie das eine oder andere Mal erwischt, ist sie sich nie sicher, ob sie die richtige Sofia Blyuvshtein geschnappt hat.
Ihren seltenen, unsicheren autobiografischen Angaben folgend vermutlich 1846 als Sheindlia-Sura Leibovna Solomoniak in Povozki (einem heutigen Stadtteil Warschaus; damals eine Acht-Häuser-Siedlung) in eine ärmliche polnisch-jüdische Familie geboren, lernt sie in ihrem Milieu früh alle Schattenseiten der Straße kennen. Sie lernt aber auch allen Widrigkeiten zum Trotz mit Erfolg davonzukommen, sich durchzuschwindeln, zu tarnen und zu täuschen. Neben hübschen Kleidern haben es ihr bald großer Pomp, Luxus und girl’s best friends, also Juwelen, Diamanten und sonstiger wertvoller Klunker, angetan. Sie will dem Elend entrinnen und ihre Intelligenz, Erfindungsgabe und Empathie helfen ihr dabei.
Sofia, auch Sonya und Son’ka genannt, heiratet das erste der vielen weiteren Male bereits als 15-Jährige. Wie oft sie tatsächlich oder vermeintlich im weiteren Verlauf ihres Lebens Eheschließungen eingeht, wird für immer unbekannt bleiben. Die garantierte Mindestzahl ist drei, manche gehen aber auch von zweistelligen Zahlen aus. Beim ersten Mal ist es der Händler Rosenbad, der sie jedoch bald wegen ihrer sexuellen Promiskuität verlässt. Unfreiwillig verlassen ihn dabei aber auch das eine oder andere kostbare Stück des Haushalts. So ähnlich läuft es auch beim zweiten Ehemann ab, dem genauso reichen wie greisen Scheloma Shkol’nik.
Vom dritten Ehemann, dem professionell agierenden Gauner und Falschspieler Mikhail Blyuvshtein, lernt sie das Gewerbe von der Pike auf und eignet sich neben seinem Nachnamen dauerhaft auch viele trickbetrügerische Fähigkeiten an. Im Laufe ihrer Karriere erweitert sie ihr Repertoire und wird zu einer der genialsten und mutigsten Hochstaplerinnen aller Zeiten. Sie beschließt, ohne Mikhail, dem sie in ihren Fertigkeiten rasch weit überlegen ist, ihr Glück zu suchen und startet eine eigene, sensationelle kriminelle Laufbahn.
Meistens ist Sonya als Mitglied der Hocharistokratie verkleidet. Dies öffnet im Zarenreich so manche Tür und vermeidet indiskrete Fragen. Ihre Fingernägel lässt sie dergestalt formen, dass sie Juwelen darunter verbergen kann, ihr kleines Äffchen ist darauf trainiert, Diamanten zu verschlucken. So wird so mancher Besuch beim Juwelier zu einem Großereignis für alle Beteiligten. Sollte dem Ladenbesitzer auffallen, dass etwas abhanden gekommen ist, werden die anwesenden Kunden, und viele davon sind Sonyas Komplizen, die ohnehin nur da sind, um ein größeres Wirrwarr zu erzeugen, durch die eilig herbeigerufene Polizei durchsucht. Die edle Dame jedoch eher selten, und wenn, dann bestimmt nicht im Mund oder unter den Fingernägeln, und ihr Äffchen sowieso nie. Die darauf steigenden Partys der Diebesbande fallen natürlich fett aus.
Die bald zu ihrem eigenen Entzücken "Son’ka Golden Hand" genannte Frau wird in die allerhöchsten Ganovenkreise St. Petersburgs und somit auch Russlands aufgenommen und verbringt so manche Zeit der ausgiebigen Erholung mit falschen Papieren ausgestattet als eine vermeintlich Adelige in Nobelkurorten wie dem böhmischen Marienbad. Bald umgibt sie ein ungeheurer Ruhm. Es ist eine Seltenheit, in Zeiten ohne Massenmedien bereits vor einer Verhaftung so bekannt zu sein. Die Meisterdiebin ist es. Das leidgeprüfte russische Volk lacht sich nämlich nur allzu gern ins Fäustchen über tatsächlich stattgefundene oder ihr zugedachte Coups. Schließlich wird ja nie das Volk bestohlen – dafür haben die meisten Opfer von Sonya schon im Vorhinein gesorgt. Die Schadenfreude ist groß, zudem werden auch „Robin Hood“-mäßige Geschichten verbreitet wie jene, laut der ein junger Mann bereits seinen Abschiedsbrief geschrieben hat und kurz davor ist, Selbstmord zu begehen, weil er mit dem wenigen Familienvermögen ohne Rücksprache mit der Familie für das Überleben seiner kranken Schwester gesorgt hat. Als Son’ka das erfährt, lässt sie dem guten Mann, während er schläft, die doppelte Geldmenge zukommen … Witwen werden beschenkt, arme Schauspieler*innen belohnt. Und das alles mit hart Erstohlenem.
Legendär ist der Raub beim Juwelier Khlebnikov. Blyuvshtein, wieder bestens als Dame aus feinem Hause hergerichtet, betritt den Laden als „Baronin Sofia Buxhoeveden“ gemeinsam mit einem älteren Mann und einem Kind, die für ihre Verwandten gehalten werden. Als all die hübschen Sachen, die sie sich ausgesucht hat, verpackt sind, fällt ihr plötzlich ein, dass sie ja das nötige Geld zu Hause liegen gelassen hat. Sie verlässt eilig und entschuldigend den Laden samt den kostbaren Juwelen, während die beiden „Verwandten“ im Geschäft sitzen bleiben und vom Händler quasi als Garantie gehalten werden. Aber die beiden sitzen … und sitzen. Die Baronin kehrt nicht mehr zurück. Die Polizei findet schlussendlich heraus, dass die beiden nur Statisten sind, die Blyuvshtein von der Gosse des nahe gelegenen Marktes engagiert und verkleidet hat.
Gerade die den jeweiligen Situationen entsprechende Verkleidung, gepaart mit frechem und feschem Auftreten und zudem die Leichtigkeit, Männern Liebschaften und amouröse Affären vorzugaukeln, werden Son’kas Trumpf. Viele opfern unfreiwillig ihr Familienleben oder ihre Position für ein paar Stunden mit der eigentlich nicht einmal als „besonders hübsch“ beschriebenen Hochstaplerin. Aber wenn es in der Hose zu eng wird, geht bekanntlich weiter oben der Sauerstoff aus und die Männer sind für alles zu haben. Einmal im Smolensker Gefängnis einsitzend, unterhält sie die Häftlinge und Wärter mit Geschichten und Gedichten in fünf Sprachen. Einer der Gendarmen ist so hingerissen, dass er sie nicht nur fliehen lässt, sondern gleich mit ihr entschwindet. Bald darauf wird er gefasst und abgeurteilt, Son’ka selbst bleibt, natürlich, unauffindbar.
Es ist ihre größte Gabe, Männern auf Anhieb den Kopf zu verdrehen. Sei es 1884 bei einer gemeinsamen Nachtzugfahrt von Odessa nach Moskau mit einem Banker, bei der in der Früh sowohl die freizügige „Mrs. Sofia San Donato“ als auch das fette Portemonnaie und teure Ringe fehlen, oder sei es bei der Begleichung von Anwaltskosten, als sie dem verdutzten Advokaten seine eigene Uhr als Bezahlung anbietet …
Der Trick, sich als reiche Dame verkleidet in einem Nobelhotel einzuschreiben, um sich dann in der Früh in die Zimmer der von den Partyexzessen der letzten Nacht ermüdeten, lang und tief schlafenden Aristokratie einzuschleichen, wird weltberühmt. Sie nennt ihn den „Guten Morgen!“ Trick. Sollte sie der im Zimmer befindliche Mann wahrnehmen, entschuldigt sie sich mit einem „Guten Morgen!“ und gibt vor, sich in der Zimmernummer geirrt zu haben. Sollte das nicht ausreichen, legt sie sich kurzerhand zum Betreffenden ins Bett. Spätestens das reicht, um sowohl ungeschoren als auch in Folge trotzdem mit vollen Händen davonzukommen.
Die beste Story bleibt jedoch jene, als sie 1883 den Juwelier Karl von Mel um einen stattlichen Batzen ärmer macht. Zunächst gibt sie im Juwelierladen vor, die Frau eines berühmten Psychiaters zu sein und sucht sich reichlich teuren Schmuck aus. Diesen lässt sie an die Adresse des wohlhabenden Psychiaters bringen. Karl von Mel will es sich nicht nehmen lassen, die überaus kostbare Ware selbst zu liefern. Son’ka passt ihn im Garten des Hauses ab, übernimmt die exquisite Lieferung und bittet den Juwelier, ins Haus zu gehen, damit ihr Mann die Rechnung begleichen kann. Drinnen erlebt er allerdings eine böse Überraschung. Der Psychiater lässt ihn von seinen Mitarbeitern packen und ins Irrenhaus einliefern. Bis sich dieser aus seiner misslichen Lage befreien kann, ist „Golden Hand“ längst über alle Berge. Beim Psychiater hat sie sich vorher nämlich als die Frau des Juweliers ausgegeben und um Hilfe gebeten, da dieser von Sinnen sei und ständig Leuten nachrenne und darauf bestehe, dass all diese kostbaren Schmuckstücke bezahlt werden, die jedoch nur in seiner krankhaften Fantasie existieren.
Das Ende ihrer kriminellen Laufbahn ist ironischerweise einer Liebschaft zu einem jüngeren Mann zu verdanken. Sie ist von diesem Volodya Kochubchik alias Wolf Bromberg so angetan, dass sie ihm nun selbst wie geblendet alles durchgehen lässt. Als dieser in immer kürzerer Zeit immer mehr von ihrem Vermögen beim Kartenspielen und ähnlichen Anlässen verprasst, sieht sie sich gezwungen, Dinge zu drehen, die weder gut geplant sind noch ihrem Stil entsprechen. So läutet sie bei einer Gelegenheit an der Tür einer Villa und verlangt den Besitzer zu sprechen. Während der Diener seinen Herrn holt, rafft sie alles zusammen, was sie im Vorzimmer an Kostbarkeiten finden kann und flüchtet. Auf Dauer kann das natürlich nicht mehr gut gehen. Son’ka Blyuvshtein wird verhaftet. Zunächst weiß die Polizei selbst nicht, ob sie wirklich die „Golden Hand“ in der Zelle hat. Zu oft hat sie schon zu viele zum Narren halten können. Doch diesmal ist es tatsächlich so weit, die berühmteste Trickbetrügerin ihrer Zeit ist gefasst.
Sie wird von Odessa an die sibirische Pazifikküste verschifft, die „ganze Stadt“ strömt herbei und feiert sie dabei als Heldin. Das Ziel ist die Strafkolonie der Insel Sachalin, die Anton Tschechow in einer Erzählung als „Russlands Schreckensinsel“ bezeichnet. Der Schriftsteller trifft 1890 auch tatsächlich vor Ort Russlands berühmteste Diebin und beschreibt dies ausführlich in seinem Reisebericht. Sie kann, wie nicht anders zu erwarten, auch aus dieser Gefangenschaft entlaufen. Ganze drei Mal gelingt ihr die Flucht, jedoch weitab von zu Hause und fern von Beziehungen und Netzwerken ist es ein Leichtes, sie wieder festzusetzen. Zur Strafe wird sie überhart behandelt und ausgepeitscht, danach für fast drei Jahre in Einzelhaft und Ketten festgehalten.
All dies ist ihrer Gesundheit natürlich abträglich, Son’ka ist bald ein von Misshandlungen und Schmerzen geplagtes Wrack. Ihre beiden Töchter, die sie von all ihrem Treiben fern gehalten und denen sie beste Ausbildungen in Paris zukommen hat lassen, sagen sich Jahre zuvor bereits von ihr los. Seelisch quälen sie auch die von ihr in diesem Zustand gemachten Fotografien, die als Postkarten vervielfältigt und an Vorbeireisende verkauft werden. Gebrochen, erniedrigt und geschunden stirbt 1902 jene Frau, die zu Lebzeiten ganz Russland mit ihren Gaunereien unterhalten hat. Sie wird auf Sachalin beigesetzt.
Erstaunlicherweise existiert jedoch am Moskauer Wagankowski Friedhof eine Statue mit einem Frauenkörper, jedoch ohne Kopf. Auf dem Grabstein steht „Bluvshtein“. Heutzutage ist es eine Pilgerstätte angehender Diebe geworden. Graffitis mit passenden Sprüchen wie „Lass mich ein guter Dieb werden“ säumen den Beton. Für die Langfinger Russlands ist es Brauch und Ritual geworden, sich durch die Berührung mit dem vermeintlichen Grabstein der legendären Vorgängerin Glück und Schutz zu holen. Die „Goldene“ ist sozusagen nun auch eine „Heilige“ geworden.